Meine Geschichte - Suzuko Numata

 Am Morgen jenes schicksalhaften Tages, dem 6. August 1945, hätte ich mir nie träumen lassen, daß den Menschen von Hiroshima um 8.15 Uhr etwas Schreckliches zustoßen würde. Die Sirenen, die seit dem vorigen Abend immer wieder Luftalarm gegeben hatten, waren schließlich verstummt, und ich genoß die Ruhe, als ich zur Arbeit ging; ich trug meinen Helm für den Luftalarm und einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten. Ich ging, tauschte Grüße mit Menschen auf der Straße und erreichte schließlich meinen Arbeitsplatz, das Büro für Kommunikation in Hiroshima; es war ein vierstöckiges Betongebäude, 1.000 Meter entfernt von jenem Punkt, der bald das Hypozentrum der Atombombe sein sollte.

 Meine Familie bestand aus meinen Eltern, einem älteren Bruder, einer jüngeren Schwester und einem jüngeren Bruder. Mein jüngerer Bruder machte zu jener Zeit eine militärische Ausbildung, und wir hatten den Kontakt zu ihm verloren. Mein Vater, meine Schwester und ich waren beim Büro für Kommunikation angestellt. Als die Bombe fiel, befand mein Vater sich im vierten Stock, meine Schwester im dritten, und ich war unterm Dach, wo sich mein Büro befand. Mein älterer Bruder arbeitete bei der Sparkasse Hiroshimas, 1.500 Meter vom Hypozentrum entfernt, und meine Mutter war zu Hause. Als ich an meinem Arbeitsplatz unter dem Dach ankam, waren einige meiner männlichen Kollegen schon da und genossen den wundervollen Morgen. Der Himmel war strahlend blau, keine einzige Wolke war zu sehen, und die Männer hatten alle nackte Oberkörper, einige machten Turnübungen, andere fächelten sich Kühlung zu und schauten in den Himmel. Ich arbeitete mit drei anderen Frauen zusammen, da sie aber noch nicht gekommen waren, fing ich an, das Büro sauberzumachen. Die Reinigungssachen befanden sich unterm Dach, aber aus irgendeinem Grund entschied ich mich, in den vierten Stock hinunter zu gehen und dort Wasser zu holen. Ich ging mit meinem Eimer los und sah die Männer noch, wie sie turnten, als ich die Stufen runterging. Gerade als ich durch den Gang ging, der zum Waschraum führt, sah ich einen strahlenden Blitz aus vielen Farben, fast so als ob Magnesium vor meinen Augen explodiert sei. Im nächsten Augenblick aber wurde alles um mich herum dunkel, und ich erinnere nichts mehr.

 Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß ich in einem dunklen Raum war, eingeklemmt unter etwas sehr, sehr schwerem. Obwohl ich im Gang gestanden hatte, war ich durch den Explosionsdruck in einen anderen Raum geschleudert worden! Ich hörte jemanden den Gang runterrennen und schreien, und ohne zu denken, schrie ich: "Hilfe!" In diesem Moment fand mich ein Mann und zog mich, so schnell er konnte, unter den Trümmern hervor. Später erzählte man mir, daß mein linker Fußknöchel zu dieser Zeit bereits bis auf den Knochen durchtrennt war und nur noch an einem drei Zentimeter langen Stück Haut hing und blutete. Mein Retter hob mich auf seinen Rücken und begann, nach unten, ins Freie zu laufen. Plötzlich waren wir von einem merkwürdig riechenden Rauch eingeschlossen, wir schafften es aber dennoch vom vierten Stock in den ersten hinunter und ins Freie zu kommen. Draußen aber brannte alles in hellen roten Flammen, auch die Bäume um uns herum. Als ich zum Gebäude zurückschaute, sah ich Flammen aus den Fenstern wehen wie rote Vorhänge im Wind. Wenn ich auch nur eine Sekunde später gerettet worden wäre, hätte ich wohl nicht überlebt, sondern wäre dort schmerzvoll umgekommen. Als die Hitze im Garten stärker wurde, gerieten die Menschen in Panik, und auch die Verwundeten rannten durcheinander und suchten einen Fluchtweg. Mitten in der Menge rannte mein Vater, halb verrückt vor Angst, er schrie: Wo ist meine Tochter? Ich kann meine Tochter nicht finden!" Als er meinen verletzten Fußknöchel sah, bekam er wohl einen Schock und bat die Menschen um uns herum, mir zu helfen, obwohl auch sie verletzt waren. Dennoch gelang es jemandem, mit einer Tatami-Matte zu mir zu kommen, mich darauf zu legen und an einen sichereren Platz zu tragen. Was ich dort sah, war ein Bild der Hölle. Menschen waren derart verbrannt, daß sie nicht länger menschlich aussahen. Sie schrien vor Schmerzen, reifen nach Wasser, nach Hilfe, nach ihrer Mutter, und starben, einer nach dem anderen. Mir fehlen die Worte, diese schreckliche Szene zu beschreiben. Es war wie etwas aus einer anderen Welt.

 Nachdem ich immer wieder ohnmächtig geworden war, erlangte ich meine Sinne schließlich wieder. Mein Fußknöchel hatte stark geblutet, hatte jetzt aber aufgehört. Eine Frau kniete bei meinem rechten Fuß nieder; plötzlich sah sie mich an und rief: "Schwester!" Es war meine jüngere Schwester. Ihr Kopf, ihr Gesicht, ihre Arme und ihr gesamter Oberkörper waren übersät mit Glassplittern und schwarz von Blut. Plötzlich wurde der Himmel schwarz, und es begann zu regnen. Wir konnten uns nirgends unterstellen, also blieben wir liegen, so wie wir waren, und ließen den Regen auf uns herabfallen. Ich erinnere mich, daß der Regen auf den Stumpf meines Beines fiel, und ich erinnere die seltsame Tatsache, daß mir dies nicht weh tat. Da das Krankenhaus des Kommunikationsbüros in Flammen aufgegangen war und Ärzte und Krankenschwestern dabei verwundet worden waren, kam an diesem Tag keine medizinische Hilfe für uns. Als die Nacht hereinbrach, machten mein Vater und die Menschen um mich herum sich Sorgen über meinen Fußknöchel, und gerade als sie überlegten, was sie tun sollten, kam ein Arzt, der für einige Zeit fort gewesen war, zurück. Mein Vater rief ihn, und gegen halb neun, neun Uhr an diesem Abend amputierte der Arzt die Reste meines linken Fußknöchels. Er hatte keine Betäubungsmittel oder andere Medikamente, und als er fertig war, wickelte er den Stumpf meines Beines nur in Gaze-Bandagen. Das war das erste Mal, daß mir bewußt wurde, daß ich von nun an keinen linken Fuß mehr hatte.

 Am neunten August trafen mehrere Gruppen von Ärzten aus anderen Landesteilen ein, um die Verwundeten zu behandeln. Bis dahin waren wir drei Tage lang ohne jede medizinische Versorgung gewesen. Mein Bein hatte sich inzwischen entzündet, und als die Ärzte kamen, hatte sich die Entzündung bis zum Knie ausgedehnt, so daß ich kurz vorm Tod stand. Die Ärzte entschieden, daß der einzige Weg, mir zu helfen, sei, mein Bein oberhalb des Knies zu amputieren; und am Morgen des zehnten August schnitten sie mir ohne irgendwelche medizinischen Hilfsgeräte und fast ohne Betäubungsmittel mein Bein am Oberschenkel ab. Inzwischen war ein medizinisches Zentrum eingerichtet worden, aber die Räume waren schmutzig und Maden wuchsen in unseren Wunden. Es war eine lebendige Hölle: Lebende und Tote lagen Seite an Seite, unsere Tage wurden nur unterbrochen von den Angstschreien derjenigen, die bei Bewußtsein waren, vom Toben der Vor-sich-hin-Phantasierenden und vom Weinen jener, die dem Tode nahe waren. Ich lag auf meinem Bett, die Luft war schwer vom Gestank nach Blut, Eiter und dem Verbrennen der Leichen, das Tag und Nacht weiterging in der ausgebrannten Wüste, die einst Hiroshima gewesen war.

 Im März 1947 wurde ich schließlich aus dem Krankenhaus entlassen. Während der 18 Monate, die ich im Krankenhaus verbracht hatte, war mein Bein viermal operiert worden. Meine Mutter fuhr mich in einem Kinderwagen nach Hause, der zu einer Art Rollstuhl umgebaut worden war. Die Stadt war derart verändert, daß ich sie nicht wiedererkannte, und ich weinte den ganzen Weg zu unserem Haus. Das war jetzt eine Baracke, die inmitten des Schutts errichtet worden war. Mein Vater war nicht verletzt worden, meine Mutter war nur leicht an ihrer linken Hand verwundet worden, mein älterer Bruder hatte Verbrennungen an seinem Gesicht und seiner Brust, und meine Schwester hatte Schnitte überall in ihrem Gesicht und ihrer Brust. Erst nach dem 15. August, als mein jüngerer Bruder aus dem Militärdienst entlassen wurde und nach Hause kam, war unsere ganze Familie wieder vereint. Im August hätte ich eigentlich heiraten sollen, aber mein Verlobter war im Juli in einer Schlacht getötet worden. Erst Mitte August erfuhr ich von seinem Tod, gerade als ich am meisten unter den Schmerzen in meinem verwundeten Bein litt. So verlor ich jeglichen Wunsch weiterzuleben, ja auch nur weiterzudenken, und ich entfernte mich von jedermann in meiner Umgebung; ich verbrachte meine Tage damit, still in den Raum zu starren. Bis meine Eltern starben, mußten sie sich also Sorgen um ihre unverheirateten Töchter machen; heute leben meine Schwester und ich zusammen und unterstützen einander.

 In einem winzigen Moment, als Tausende von Menschen starben, wurde mein Leben verschont. Ich habe seit jenem Tag gelitten, aber ich habe überlebt, und meine Aufgabe ist es heute, dafür zu sorgen, daß jene, die starben, ihr Leben nicht vergebens gaben. Ich muß für all die Opfer von Hiroshima und Nagasaki sprechen. Wir dürfen nicht gestatten, daß sich die Tragödie von Hiroshima und Nagasaki jemals wiederholt. Damit die Menschlichkeit überlebt und Menschen glücklich leben können, muß ich mein Leben dafür einsetzen, daß alle Atomwaffen abgeschafft werden und es nie wieder Krieg gibt. Darüber hinaus muß ich meine persönliche Geschichte dafür einsetzen, daß junge Menschen, die keine Erfahrung mit Krieg haben, erkennen, wie kostbar das Leben ist; und ich muß ihnen die Wahrheit darüber sagen, was damals in Hiroshima und Nagasaki passiert ist. Heute verbringe ich mein Leben damit, zu jungen Menschen zu sprechen, ich pflanze so Samen für den Frieden. Ich hoffe, daß die Menschen diese Samen gut wässern und pflegen, und daß sie gleichzeitig ihre jugendliche Energie dafür einsetzen, die Wahrheit weiterzutragen über das, was in Hiroshima und Nagasaki passierte.

 

Dieser chinesiche Sonnen-
schirmbaum, so erzählt
Suzuko Numata, gab ihr oft
Mut zum Leben. Er wurde
durch die Atomexplosion
schwer verbrannt; dennoch
blühte er im Frühling 1946
wieder - obwohl Wissen-
schaftler gesagt hatten,
daß in Hiroshima 75 Jahre
lang keine Pflanzen mehr
wachsen würden...

Mit freundlicher Unterstützung von Hardy Tasso (1995)

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